Stadt des Orion, 1998 - 2003

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Stadt des Orion
Die sieben Hauptsterne des Orion mit ihren Namen: Rigel, Siaph, die drei >Gürtelsterne< Mintaka, Alnitak und Alnilam, sowie Bellatrix und Betelgeuse, sind durch ihre Lage am Himmelsäquator von allen Teilen der Welt am eindrucksvollsten in den Wintermonaten zu sehen. Das Konzept sieht vor, diese sieben Sterne auf der Erde durch die gleiche Anzahl von Beobachtungstürmen aus gestampftem Lehm darzustellen. Jeder dieser Türme steht für einen der sieben Sterne. Ihre Positionen im Sternbild bestimmen die Anordnung der Türme im Grundriß der Anlage, deren Ausmaße circa 40 x 100 Meter betragen. Die Abmessungen in Höhe zwischen 15 und 6 Meter, Breite und Tiefe der Türme werden abgeleitet aus der Helligkeit und Ausdehnung dieser Sterne. Im oberen Drittel der Türme, das über Außentreppen zu erreichen ist, befinden sich astronomische Beobachtungssitze. Durch Schlitze in den Außenwänden, deren Höhe, Breite und Ausrichtung genau berechnet ist, können zu bestimmten Zeiten bestimmte Sterne und Sternbilder observiert werden. Der Orion-Nebel M 42 ist innerhalb des Sternbildes ein Sternentstehungsgebiet, das von riesigen Gaswolken umgeben ist. Er stellt mit einigen dicht zusammenstehenden Sternen das >Schwertgehänge< des Orion dar und soll in dieser Anlage durch einen Brunnen gekennzeichnet werden. Sieben weitere kleinere Sterne, die unter anderem den >Kopf< des Orion bilden, werden ebenfalls durch Türme aus Stampflehm dargestellt. Der Standort dieser Anlage ist im südöstlichen Teil von Marokko vorgesehen. Grundlage der astronomischen Berechnung für die Ausrichtung der Beobachtungstürme sind die Koordinaten 31 Grad Nord und 5 Grad West. Ausgehend von einer Berechnung für den 17. Januar, hat der Rundgang eine Dauer von eineinhalb Stunden. Er beginnt gegen 21 Uhr am Turm Saiph, der auf den Stern Procyon (Sternbild Kleiner Hund) ausgerichtet ist. Um 21.09 Uhr bewegt sich dieses Sternbild in das Sichtfeld, das der Beobachtungsschlitz freigibt. Nach fünf Minuten, um 21.14 Uhr ist das Sternbild dem Sichtfeld wieder entschwunden. Nach dem Abstieg und einer Wegstrecke von 30 Meter, wird der Turm Rigel erreicht. Von hier aus ist um 21.21 das Sternbild Hase zu sehen. Der Rundgang über die weiteren Türme endet um 22.20 Uhr. Obwohl die sieben großen Türme astronomische Bauwerke sind, die dem Betrachter durch ihre Anordnung und Ausrichtung die Bewegung bestimmter Himmelskörper verdeutlicht, ist diese Anliege doch in erster Linie in der Absicht geplant, das Sternbild Orion dreidimensional als Groß-Skulptur auf der Erde darzustellen.

Realisiert 2000 - 2003 in Marokko, Marha-Ebene.
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Stadt des Orion, Zeichnung, 2000
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 2000
60 x 88 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung, 2000
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 2000
150 x 100 cm
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Stadt des Orion, Foto
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Stadt des Orion, Foto
Nur wenigen Kunstfreunden war es bislang vergönnt, diese beiden Bauten in ihren ausgeklügelten Maßen und ihren räumlichen Extravaganzen zu erleben. Die "Stadt des Orion" aber - sie bildet den dritten Eckpunkt irn magischen Dreieck der Vothschen Bauten - kann jeder Besucher in ihren ungeheuren Dimensionen erleben und genießen. Achtzehn unterschiedlich große, bis zu 20 Meter hohe Türme aus Lehm, die über Außentreppen zu besteigen sind, und Mauern, die zwischen den Türmen hin- und herlaufen, fixieren das markante Sternbild des Orion mit der Dreiheit der Gürtelsterne spiegelbildlich auf den Boden der Wüste. Die Höhe und Wucht der Türme entspricht dabei der Strahlkraft der jeweiligen Himmelskörper. Wenn je ein modernes Kunstwerk etwas von der Magie des Orients hat vermitteln können, dann dieses burgartige Ensemble, das alle orientalischen Filmkulissen zu Kitsch gerinnen lässt.

Gottfried Knapp, “Bauen für die Elemente”
in: Süddeutsche Zeitung, 6./7. Februar 2010
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Stadt des Orion, Foto eines Turmes
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Stadt des Orion, Foto eines Turmes
In den suggestiven Schwarz- Weiß-Fotografien der Architekturfotografin Ingrid Amslinger bekornmen die Bauten und Aktionen von Hannsjörg Voth die fällige Resonanz.

Gottfried Knapp, “Bauen für die Elemente”
in: Süddeutsche Zeitung, 6./7. Februar 2010
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Stadt des Orion, Zeichnung
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 2001
41 x 63 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung eines Turmes
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 2001
42 x 63 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung
Zeichnung auf Transparent, Mischtechnik, 2000
33 x 103 cm
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Stadt des Orion, Foto
Das freie Spiel der Körper im Licht, von dem die Architekten der Moderne träumten - unter der scharfen Wüstensonne Marokkos wird es an den Kuben der Vothschen Sternenstadt zum physischen Ereignis. Bei Nacht aber bewähren sich die Türme als Observatorien. Die Treppen, die um sie herum nach oben führen, enden in Sitznischen, über denen ausgesparte Blickschächte ein ' bestimmtes Sternbild in einem bestimmten Moment präzise ins Bild setzen. Blickt man von diesen Falkenhorsten aus über die Ebene, kann man die "Spirale" und die "Himmelstreppe" am Horizont hochragen sehen: Sie bilden mit der "Stadt des Orion" eine Dreieck in der Wüste, das in seiner zweckfreien Bildhaftigkeit kaum zu überbieten ist, ja sie werden selber zu Gestimen, die mit den Materialien der Erde auf den bildlich übermächtigen Himmel antworten.

Gottfried Knapp, “Sterne am Wüstenboden”
in: Süddeutsche Zeitung, 14. Oktober 2005
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Stadt des Orion, Foto
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Stadt des Orion, Zeichnung
Rote Erde, Kalk auf Büttenpapier, 2005
121 x 80 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung
Rote Erde, Kalk auf Büttenpapier, 2005
111 x 76 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung
Grüne Erde, rote Erde auf Büttenpapier, 2005
76 x 111 cm
Wann immer Hannsjörg Voth seine Arbeitsräume über dem Wasser oder in der Wüste zum Zeichnen, Aquarellieren, Objektemachen oder Malen genutzt hat, offenbarte er mehr von seinem Selbst als in seinen phantasievoll gebändigten Projektzeichnungen oder in seinen grandiosen, nun hoffentlich doch eine kleine Ewigkeit überdauernden Bauten. Da platzen Träume auf, ihre Gesichter und Gesichte stürmen das weiße Blatt, verdichten sich unter den nervösen Bewegungen der Bleistiftspitze zu nie geschauten Wesen und Requisiten. Da fliegen Menschen, kauern dunkle Vögel, paaren sich gehörnte Bocksgestalten, wirbeln die Flügel des Ikarus, zücken steinzeitliche Jäger den Speer. Alle chaotischen Geister, die Voth mühsam und unter Aufbietung äußerster Disziplin in den geordneten Windungen seines Bauwerks gefangengesetzt hat, befreien sich nun wieder und nehmen sein Bewußtsein in Besitz. Und auch die Wüste fordert Rechenschaft für den kühnen Eingriff des Fremden, indem sie in seinem Innern jäh zu wildem Leben erwacht und den Homo Faber zwingt, zu reagieren, bis er das Tohuwabohu auf seinem Zeichenkarton abermals gebannt hat.

Alfred Nemeczek, Ikarus ist nicht aus Neugier geflogen
in: Goldene Spirale
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Stadt des Orion, Zeichnung
Rote Erde, Holzkohle, Kalk auf Büttenpapier, 2005
76 x 112 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung
Asche, rote Erde, Holzkohle auf Büttenpapier, 2005
76 x 111 cm
Mein Weg führte über eine von Steinen übersäte Ebene. Den Blick auf den Boden gerichtet, ging ich zwischen den Steinen hin und her. Sie klirrten unter meinen Füßen, hüpften, schlugen aneinander, rollten und ließen auf der lehmgelben Erde helle Flecken zurück: >Sonnensteine<, scharfkantig und rauh. Im Wechsel von mörderischer Hitze und Eiseskälte zersplitterten sie in winzige Teile. Auch Abschläge von Feuersteinen lagen herum. Reste von Waffen und Werkzeuge aus dem Neolitikum. Einige Splitter hob ich auf, rieb sie an meiner Wange bis sie glänzten und warf sie zurück auf den Boden. Eine fast fertig gearbeitete Pfeilspitze steckte ich in die Hosentasche. Ein brauner, faustgroßer Stein, glatt wie aufgedunsen, erinnerte an ein Stück Leber. Daneben, im gleichen Farbton, ein Stein mit riffeliger Haut, aber kleiner. Steine, wohin man sah, überall Steine. Steine in allen Formen und Farben. Ich nannte sie >Ingrid-Steine< - flach, oval, schwarz, von weißen Marmoradern diagonal durchzogen. Andere wieder waren schiefergrau bis grünlichblau und mit ockerfarbigen Warzen besetzt. Ich sah sie schon, gefaßt in Gold, zwischen Brüsten auf dunkelvioletter Seide. Kristalle ragten schräg aus dem Boden, sechseckig, durchsichtig, oben zugespitzt. >Regentränen<. Sie ließen mich an Frauen denken, die unter schwarzen Schleiern weinten. Auf einer kalkweißen Fläche lagen kleine, rostrote, kugelförmige Gebilde. Ich hockte mich nieder, wog sie in der Hand. Eisenhaltig schwer. Vielleicht ein Meteorit, aufgeschlagen, zerplatzt in unzählige kleine Kugeln? Mein Herz pochte. Mein ganzer Körper begann zu klopfen. >Musketenkugeln<, >Blutsteine<, blutrote >Zaubersteine<, vogelköpfig, wanzenplatt. Nomadenkinder warfen sie den Ziegen nach. Dunkelrote >Ziegelsteine<, rauchgrau gesprenkelt, von bläulichen Linien durchzogen. Dattelschnaps - Zungenschlag - lallend. Ich vermeinte, ein Gelächter zu hören. Nein, es war mehr ein Grunzen. Ich schreckte hoch, blieb stehen wie versteinert. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.

Hannsjörg Voth, Sonnensteine
in: Stadt des Orion
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Stadt des Orion, Zeichnung
Asche, braune Erde, Kalk auf Büttenpapier, 2005
76 x 112 cm
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Stadt des Orion, Zeichnung
Asche, braune Erde, Kalk auf Büttenpapier, 2005
79 x 111 cm
Eine Stunde vor Tagesanbruch trat ich in die morgendliche Nacht. Noch war der Himmel klar und rein. Stählern kalt funkelte Sirius über dem Horizont. Etwas höher am Firmament standen, wie mit einem milchweißen Schleier überzogen, zusammengedrängt die Plejaden. Wohl müde von ihrer Verfolgung, lag Orion, der große Himmelsjäger, den Kopf gesenkt, im Westen. Überwältigt vom Anblick der kosmischen Landschaft, von ihrer Unendlichkeit und dem Unermeßlichen dahinter, schloß ich die Augen. Ein Schwindel überkam mich. Das Orionprojekt begann von mir abzufallen, entfernte sich. Und jetzt? Ich stieg ins Auto und drehte den Schlüssel im Zündschloß herum.

Hannsjörg Voth, Millionenfacher Sternenfluß
in: Stadt des Orion